Six hat geschrieben:
Zwei Antworten: Ja und Nein. Erstens glaube ich, daß freie Menschen einen freien Markt erzeugen und andersherum ein unfreier Markt Menschen unfrei macht. Daher freier Markt = freie Menschen. Ich sage nicht, daß es im Augenblick einen freien Markt in der BRD (oder sonst wo) gibt.
was den spekulativen charakter beweist: ich könnte genausogut argumentieren, dass erst eine klassenlose gesellschaft absolute freiheit erzeugt. da es bisher nirgends eine derarige gesellschaft gibt, brauche ich den beweis nicht erbringen...
Six hat geschrieben:
Zweitens, wie ich schon sagte: wir können gleich oder frei sein, beides zugleich halte ich für nicht möglich.
Wie man auf den Gedanken kommt, daß Chancengleichheit Freiheit bedeutet ist mir völlig schleierhaft. Wenn die Söhne und Töchter eines reichen und eines armen Menschen die gleiche, meinetwegen kostenlose Schule besuchen und dort einen Abschluß machen, dann ist das eine Sache. Wenn man den Kindern des Reichen aber verbietet eine bezahlte und evtl. bessere Schule zu besuchen, dann erzeugt das vielleicht Chancengleicheit, aber es schränkt die Freiheit ein.
dennoch schränkt es die freiheit der "unterprivilegierten" ein, wenn jemand mit seinem geerbten kapital einen abschluß machen kann, den andere nicht machen können, wodurch er womöglich in eine position kommt, in der er herrschen oder diskurse lenken kann (medieneliten, bspw.).
dein bild von freiheit nimmt in kauf, dass einige "untergebuttert" werden. oder plastisch: es gibt den "normalo-kindern" ihre standardausbildung und lässt den "bonzen-kindern" die elitenausbildung.
mein bild von freiheit nimmt in kauf, dass diejenigen, die überproportional "haben" auch dementsprechend "geben" müssen. und ja: das ist eine einschränkung ihrer freiheit.
stellen wir uns das mal konkret vor: wenn morgen der "freie markt" ausgerufen wird, wer wird wohl am meisten davon profitieren? wer wird anordnen und wer wird folgen? die freiheit, die du propagierst, ist also die freiheit der jetzt herrschenden.
stellen wir uns eine gesellschaft als roulette-spiel vor. in einer welt totaler freiheit hätte jeder die gleiche zahl spielsteine, die er im spiel anlegen könnte. jeder könnte gewinnen und verlieren. dann würde ich deinem freiheitsbild völlig zustimmen. leider befinden wir uns nicht einer derarigen welt, sondern in einer welt, die bereits geschichte hat, in der bereits einige gewonnen und verloren haben. wer viel gewinnt, kann auch noch leichter noch mehr gewinnen, kann vielleicht die spielregeln (zu seinen gunsten) ändern. anders herum: wer viel verliert, der wird viel schwerer seinen verlust ausgleichen können. wer zu den verlierern gehört, der hat auch keinen einfluß auf die spielregeln. andere können am spiel gar nicht mitmachen, da ihnen der zutritt zum casino verwehrt wurde. was bedeutet "deine freiheit" also in diesem spiel? es bedeutet, dass der stärkste spieler gewinnt, dass er legitimerweise gewinnt, da ja alle angeblich die "gleichen chancen" haben, mitzuspielen bzw. es ihnen suggeriert wird und sie es auch noch glauben - so wie die meisten menschen die institution "schule" und ihre beurteilungen als völlig legitim hinnehmen, obwohl sie eine sortierstation ist, die den menschen in relativ feste laufbahnen drängt und eine bestimmte gesellschaftsform zementiert. auch hier gilt: wer hat, der bekommt. wer nicht hat, dem wird genommen, und das alles unter dem deckmantel der "rationalität" (noten, beurteilungen, tests), wobei diese rationalität eben die unterschiedlichen ausgangsbedingungen ignoriert und von standardisierten menschen ausgeht. bzw. konkreter: bestimmte menschen sind für das jetzige schulsystem wie geschaffen, weil das schulsystem für sie geschaffen wurde - derjenige mit den "meisten spielsteinen" kann die regeln bestimmen. und das ist auch der grund dafür, warum lehrer- und beamtenkinder in unserem bildungssystem überproportional vertreten sind (was sich empirisch leicht nachweisen lässt). ein arbeiterkind muss, will es in diesem schulsystem "gewinne" einfahren, die spielregeln und mechanismen des schulsystems akzeptieren und stützt es somit. ein zirkelschluss, dessen gewalt sich zugegebenermaßen schwer durchbrechen lässt. aber ich schweife ab...
Six hat geschrieben:
Das ist ja ungefähr so, als wollte ich alle Leute gleich klug oder dumm machen! Ich sehe also nicht, wie man gleiche Ausgangsbedingungen schaffen will ohne die Freiheit einzuschränken. Diese Art von Gleichheit und Freiheit verträgt sich nicht.
nein, darum ging es mir auch nicht. ich will vielfalt! ich will nicht, dass alle gleich aussehen oder gleich "intelligent" sind (wobei man nun anführen könnte, dass derjenige der "intelligenteste" ist, der die macht hat, andere menschen glauben zu lassen, er sei intelligent - tatsächlich kann "intelligenz" ja auch bedeuten, besonders fromm zu sein, etc.). was ich jedoch will ist
ausgleich. wenn das die freiheit einiger weniger einschränkt, nehme ich das gern in kauf.
Six hat geschrieben:
-snip-
Man sieht, positiv definierte Freiheit ist eine Zuweisung von Privilegien und somit keine Freiheit. Freiheit sollte negativ definiert sein, durch Abwesenheit von Zwang. So wie Stille durch die Abwesenheit von Geräuschen bestimmt ist, so ist Freiheit durch die Abwesenheit von Zwang bestimmt. [Ich gebe zu, daß dies eine arg verkürzende Darstellung ist, aber wenn erwünscht, dann kann ich auch noch mal ein paar 1000 Worte zu dem Thema loslassen.

]
natürlich kann es keine positive definition von freiheit geben - karl popper lässt grüßen. ich habe es auch nicht so gemeint...

aber eine welt ohne zwang ist eben genauso utopisch wie eine welt ohne "klassen" (klassen = zwang). wenn menschen arbeitsteilig leben und wechselseitig voneinander abhängig sind, gibt es automatisch verhältnisse, in denen der eine "abhängiger" ist als der andere, was auf "zwang" hinausläuft. das bedeutet, dass es wohl kaum eine form des menschlichen zusammenlebens gab und geben wird, in der "zwang" (in welcher form auch immer) abwesend ist. mir geht es also darum, die formen des zwangs zu definieren. wer "zwingt" und wer "gezwungen" wird. wir können das auf "deine art" machen, dann zwingt derjenige, der durch erbe, durch zufall oder sonstwas andere menschen sehen, glauben und somit tun lässt. wir können das aber auch so machen, dass wir ein element einfügen, welches genau das verhindert. wenn du das "unfrei" nennst, so wird das im semantischen sinne wohl zutreffen. damit kann ich sehr gut leben...
Six hat geschrieben:
-- fabrikarbeiter-beispiel --
Wenn meine Ausbildung also gerade nicht gefragt ist, dann schaffe ich Nachfrage, wechsel mein Betätigungsfeld oder Wohnort. Das ist nicht immer leicht und macht vielleicht auch keinen Spaß, es beinhaltet vielleicht sogar "Straße ablecken" (solange es bezahlt wird) oder "7 Minijobs auf einmal".
Jetzt kannst du dir natürlich aussuchen, ob du lieber einen Sachwalter für dein Leben hättest, der dich täglich 3 mal füttert oder ob du die Härten in Kauf nimmst.
schön - es ist eben die frage, WEM zugemutet wird und wem nicht.
darum geht es mir. denn der fabrikarbeiter ist eben nicht so frei wie derjenige, der ihn entlassen hat. das ist der punkt. die ideologie des marktes geht von willigen kräften aus, die sich verschieben lassen, wie es gerade notwendig erscheint. damit können "mächtige" (bspw. wirtschaftseliten) also indirekt bestimmen, wo sich menschen ansiedeln bzw. wohin sie sich bewegen. sie verfügen damit also über orte und über fremde zeit, die sie spielerisch (p. bourdieu spricht hier von "magie") einsetzen können, so als wäre es das natürlichste der welt. sie können bestimmen, welche personen sich wann und wo aufhalten. sie können indirekt bestimmen, welche personen in kontakt geraten und welche nicht. sie können so sogar bestimmen, was menschen denken (derjenige, der diskursmächtig ist, der also in der lage ist, "setzungsarbeit" zu leisten, bestimmt, was gesehen und besprochen wird und folglich auch, was NICHT gesehen und NICHT besprochen wird. somit steuert er das denken der menschen und damit auch ihre eigene wahrnehmung der welt.) [natürlich meine ich das nicht in dem sinne, dass es "zentrale verwaltungsstellen" gibt. tatsächlich ist das viel komplizierter.]
wenn freiheit die abwesenheit von zwang ist, dann ist der o.g. arbeiter NICHT frei - es sei denn, er ist so frei und nimmt sich das leben... und offenkundig wird das den heutigen "nutzlosen" ja nahegelegt, sich doch endlich mal zu erhängen. dann wäre man sie los und könnte frei wirtschaften...
Six hat geschrieben:
Und zum zweiten Teil deines Arguments: willst du den Reichen arm, den Mächtigen machtlos und den Klugen dumm machen, damit ja alle schön gleiche Startbedingungen haben?
--snip--
darum geht es doch gar nicht. es geht nicht darum, alles auf das niedrigste level zu nivellieren. es geht aber um ausgleich. ich werde ungleichheit nicht beseitigen können, jedenfalls nicht, ohne eine menge grabsteine zu produzieren. damit würde ich jedoch nur die vorzeichen umkehren und genau das tun, was ich eigentlich bekämpfen will.
Six hat geschrieben:
Und zum dritten Teil: wieso kann der Reiche/Mächtige/Kluge über weniger reiche, mächtige, kluge verfügen wie es ihm beliebt?
weil es ja offensichtlich so ist...

siehe oben: derjenige, der "hat" kann andere glauben, sehen und tun lassen. er kann steuern, was sie tun, wann sie es tun, was sie von ihrem tun denken (daher rührt auch die akzteptanz von unterdrückung). wobei "haben" hier nicht "reichtum" bedeuten muss. tatsächlich hängt es davon ab, ob ich in der lage bin, andere menschen GLAUBEN zu lassen, dass das, was ich "habe" mich auch in die position bringt, anderen menschen befehle zu geben (sowohl direkt als auch indirekt). in archaischen gesellschaften können das muschelschalen sein oder die grösste nase oder sonst was - ich muss eben nur genügend menschen finden, die es mir abkaufen, dass meine lange nase mich zum herrschen qualifiziert. in unseren gesellschaften, die nunmal kapitalistisch organisiert sind, ist das einerseits ökonomisches kapital, andererseits kulturelles kapital und als wichtigste variante das "symbolische" kapital - der ausdruck, den die menschen sehen können. ich halte es für eine empirische tatsache, dass der "definitionsmächtige" (nennen wir ihn mal so) herrschen kann (wir können uns nun darüber unterhalten, was "tatsachen" sind und wie tatsachen hergestellt werden, aber das würde diese diskussion unnötig verlängern und nicht unerheblich erschweren...).
Six hat geschrieben:
Was sind "marktradikale Kräfte"?
Und im übrigen glaube ich, daß ich anders herum argumentiere: Wenn ich frei bin, dann ist mein Markt auch frei. Nur weil ein Markt frei sei, heißt es noch lange nicht, daß die Teilnehmer das auch sind. Jedoch bedeutet ein freier Markt potentiell freie Teilnehmer, etwas was für einen unfreien Markt nicht gelten kann.
z.b. leute wie hans-olaf henkel und co. leute, die völlig mit sich im reinen sind, weil für sie ja die welt in ordnung ist. menschen, die sich zur stützung ihrer argumente eines rationalismus bedienen, der noch nicht besonders alt ist und mit sicherheit keine anthropologische konstante ist. sie entnehmen ihre argumente aus der bestehenden unterteilung der gesellschaft und rechtfertigen sie damit (dass ich alles was ich denke und was ich bin aus der bestehenden gesellschaft beziehe und ich nicht "unabhängig" von ihr agieren kann, ist mir klar...).
ps: wenn meine sätze etwas wirr sind, so bitte ich das zu entschuldigen. am donnerstag gab es frischen primeur...
