Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

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Huo
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 09:50:23

@user8111: Dass Menschen abhängig von ihrer je eigenen Persönlichkeit unterschiedlich anfällig für die Verlockungen übermäßiger Smartphonenutzung sind, erscheint mir irgendwie trivial. Es wäre jedoch m.E. fatal, die Smartphonesucht als rein psychopathologisches Phänomen zu individualisieren und die gesellschaftliche Dimension und Herausforderung des Problems zu ignorieren.

In ihrer aktuellen Ausgabe hat die Wochenzeitung Die ZEIT in einem sehr lesenswerten Artikel sieben Jugendliche ausführlich nach ihrem Verhältnis zu ihrem Smartphone befragt. Mir fällt auf, dass das Smartphone für die Jugendlichen einerseits zentral für die Konstruktion ihrer eigenen Identität geworden ist, dass sie andererseits aber durchaus mit Unbehagen den von ihrem Handy ausgehenden, schwer zu widerstehenden Sog wahrnehmen.

Als Beispiel für beides sei aus den Aussagen einer 16-Jährigen zitiert *):
Auf meinem Handy ist alles, was mich ausmacht. Chats, Fotos, Erinnerungen. Ich habe eine App, um nach Secondhandkleidung zu suchen, eine für meine Periode, eine, auf der ich meine Noten eintragen kann, um den Schnitt auszurechnen. Mein Handy ist wie ich, aber in einer anderen Form.
[...]
Wenn ich ins Bett gehe, scrolle ich noch mal durch TikTok. Abends werden mir viel mehr traurige Videos angezeigt. Von Freundschaften, die zerbrechen. Jugendlichen, die sich zu dick finden. In einem Video verwelken Blumen im Zeitraffer, darüber steht »me when i`m worst at what i do best«, die Musik ist langsam und verzerrt. Wenn ich so was sehe, fühle ich mich nicht gut.

Manchmal wird mir schlecht, weil ich zu viel aufs Handy geguckt habe, und ich bekomme üble Kopfschmerzen. Ich wünsche mir dann, dass ich es weniger benutzen würde. Aber es ist wie eine Sucht.
*) Was macht ihr die ganze Zeit? Sieben Jugendliche über ihr Verhältnis zu ihrem Smartphone. In: Die ZEIT vom 10.10.2024

user8111
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 10:07:54

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 09:50:23
Dass Menschen abhängig von ihrer je eigenen Persönlichkeit unterschiedlich anfällig für die Verlockungen übermäßiger Smartphonenutzung sind, erscheint mir irgendwie trivial.
Es geht hier nicht nur um die "Persönlichkeit", sondern um tieferliegende ernste psychische Probleme. Das ist keineswegs "trivial". Das Smartphone ist kein diabolisches Wunderwerk, das einen gesunden Menschen zum Dauerklicken zwingen kann.
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 09:50:23
Es wäre jedoch m.E. fatal, die Smartphonesucht als rein psychopathologisches Phänomen zu individualisieren und die gesellschaftliche Dimension und Herausforderung des Problems zu ignorieren.
Nein, das wäre keineswegs fatal. Es geht auch nicht um das Ignorieren von Problemen. Es geht darum, ihre Ursachen auszumachen, die oft unbequem sind und sogar bedeuten können, dass die Gesellschaft in großen Teilen auf dem Holzweg ist. Fatal wäre es hingegen, uns auf Sündenböcke wie das Smartphone zu stürzen.
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 09:50:23
Als Beispiel für beides sei aus den Aussagen einer 16-Jährigen zitiert *):
Das wundert mich überhaupt nicht, angesichts dessen, wie
a) Kinder heute erzogen werden. Während früher die autoritäte Erziehung große Schäden anrichtete, haben wir heute das absurde Gegenteil: Helikoptereltern. Im Bekanntenkreis muss ich teils mit ansehen, dass den Kindern jeder Wunsch zu jeder Zeit erfüllt wird. Ein Elternpaar hat in der Folge soviele Geschenke für das Kind gekauft, dass die halbe Doppelgarage (sie haben nur 1 Auto) damit vollsteht ( ! ) Und das Kind ist erst wenige Jahre alt. Kombiniert wird das ganze dann aber oft auch noch mit extremem Kontrollzwang, dem Abschirmen von jeder "Gefahr" und "eigener Entwicklung" plus Leistungsdruck. Dass das "nicht gut gehen kann" - muss ich das erklären?
b) wie junge Menschen in absolut schädlich absurder Weise indoktriniert werden - durch Glorifizierung der Opferrolle und das Ablehnen jeglicher Resilenz. Man fördert geradezu fragile, unsichere Menschen. Besonders bei Frauen. Seitdem die Identitätspolitik richtig damit loslegte, Frauen zu allgemeinen "Opfern" und "allseits benachteiligt" zu erklären sind die Raten psychologisch problematischen Verhaltens bei jungen Frauen geradezu explodiert. Gleichzeitig trichtert man ihnen ein, dass "Gefühle immer recht haben" - weswegen sie gar nicht lernen, reflektiert zu handeln und Dinge zu überdenken. Das Gegenteil wird bezweckt. Es gibt noch vieles mehr (das ist nur ein Teil), das würde aber hier zu weit führen.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Meillo » 15.10.2024 10:32:15

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:07:54
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 09:50:23
Dass Menschen abhängig von ihrer je eigenen Persönlichkeit unterschiedlich anfällig für die Verlockungen übermäßiger Smartphonenutzung sind, erscheint mir irgendwie trivial.
Es geht hier nicht nur um die "Persönlichkeit", sondern um tieferliegende ernste psychische Probleme. Das ist keineswegs "trivial". Das Smartphone ist kein diabolisches Wunderwerk, das einen gesunden Menschen zum Dauerklicken zwingen kann.
Werbung ist auch kein diabolisches Wunderwerk, das Aufmerksamkeit binden und eine Kauflust erzeugen kann. Zugleich hat sie eine Auswirkung auf uns alle. Abhaengig von vielen Faktoren mehr oder weniger. Diese Faktoren koennen psychischer Natur sein, oder Schlafmangel, eine Erkaeltung, Stress, usw.

Man kann Energie aufwenden, um dem Einfluss entgegenzutreten, das faellt unterschiedlichen Menschen aufgrund allerlei Faktoren unterschiedlich gut.

Daran, dass beispielsweise Bewegungen im Augenwinkel uns hinschauen lassen oder dass Sirenengeheul unseren Puls beschleunigt, koennen wir wenig aendern, das passiert bei so gut wie jedem von uns ganz automatisch ... und hat ja auch gute Gruende, die unser Ueberleben sichern bzw. Jahrtausende lang gesichert haben und nun, wo sie teilweise nicht mehr gebraucht werden, nicht einfach abgestellt werden koennen. Darum doch laufen viele sozusagen mit Schuklappen (d.h. Kopfhoerern und Blick zum Boden) durch die Staedte, um sich vor der Informationsflut und der Ablenkung zu schuetzen, die sonst auf sie einstroemen wuerden.

Social Media und moderne Computerspiele nutzen die gleichen Effekte aus, um uns in gewuenschtes Verhalten zu draengen ... was nach meiner Beobachtung erfolgreich funktioniert.

Bichts daran *zwingt* einen, aber es gibt einen Drang, den ich sehr offensichtlich finde, der etwas bewegt.
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 10:37:42

Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:32:15
Werbung ist auch kein diabolisches Wunderwerk, das Aufmerksamkeit binden und eine Kauflust erzeugen kann. Zugleich hat sie eine Auswirkung auf uns alle. Abhaengig von vielen Faktoren mehr oder weniger. Diese Faktoren koennen psychischer Natur sein, oder Schlafmangel, eine Erkaeltung, Stress, usw.

Man kann Energie aufwenden, um dem Einfluss entgegenzutreten, das faellt unterschiedlichen Menschen aufgrund allerlei Faktoren unterschiedlich gut.
Ja, und wenn man durch eine moderne Stadt geht, gibt es auch unendlich vieles, was die Aufmerksamkeit binden kann. Es gibt überall leckeres zu Essen, Shows, Unterhaltung, schöne Frauen, sogar erotische Etablissments in die man jederzeit hereinspazieren könnte.

Das gehört zum Leben dazu. Ich kann jedem nur raten, aus der Opferrolle herauszukommen. Wer ein Problem mit seinem Smartphone hat oder wer an jeder Imbissbude an der Stadt anhalten muss, um etwas zu essen (das gibt es ja auch zuhauf), der sollte aufhören die Pommesbuden zu beschuldigen - sondern einmal anfangen, sich mit seiner eigenen Psyche zu beschäftigen.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 10:49:18

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:07:54
Das Smartphone ist kein diabolisches Wunderwerk, das einen gesunden Menschen zum Dauerklicken zwingen kann.
Andererseits ist es eine einseitige und naive Sicht, nur auf den Werkzeugcharakter von Technik zu verweisen und zu meinen, dass es doch prinzipiell jedem freigestellt sei, zu entscheiden, ob und wie er ein Werkzeug benutzt. Technik prägt uns und unsere Welt tiefgreifend, ob wir es wollen oder nicht. Schon Platon hat beklagt, dass die Erfindung der Schrift das Gedächtnis des Menschen verkümmern ließ. Die Erfindung der Uhr hat die Zeitwahrnehmung des Menschen und seinen Umgang mit der Zeit radikal verändert. Aktuell müssen wir uns fragen, wie KI unseren Alltag möglicherweise geradezu umwälzen wird, so wie es das Internet bereits getan hat.

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat mit seinem Bonmot Das Medium ist die Botschaft pointiert darauf hingewiesen, dass Medien uns formen und dass ihre Wirkung entscheidend über die bloßen Inhalte hinausgeht. Eine vernünftige (auch schulische) Medienpädagogik darf sich deshalb keinesfalls auf die Frage beschränken: "Was kann ich alles mit Medien machen?", sondern muss auch fragen: "Was machen die Medien mit mir?" Dies gilt auch und gerade für das Smartphone.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 10:59:56

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:49:18
Schon Platon hat beklagt, dass die Erfindung der Schrift das Gedächtnis des Menschen verkümmern ließ.
Was natürlich Unsinn war und zeigt, wie es "Paniken" verschiedenster Art schon früher gab. Denn dafür dass wir manches nicht mehr auswendiglernen müssen, müssen wir dafür natürlich vieles andere lernen und behalten (es wurde "Raum geschaffen") - es wird nicht weniger.
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:49:18
Aktuell müssen wir uns fragen, wie KI unseren Alltag möglicherweise geradezu umwälzen wird, so wie es das Internet bereits getan hat.

Der Medientheoretiker Marsall McLuhan hat mit seinem Bonmot Das Medium ist die Botschaft pointiert darauf hingewiesen, dass Medien uns formen und dass ihre Wirkung entscheidend über die bloßen Inhalte hinausgeht. Eine vernünftige (auch schulische) Medienpädagogik darf sich deshalb keinesfalls auf die Frage beschränken: "Was kann ich alles mit Medien machen?", sondern muss auch fragen: "Was machen die Medien mit mir?" Dies gilt auch und gerade für das Smartphone.
Nun, McLuhan sah Medien als „Sinnesprothesen“, die menschliche Fähigkeiten erweitern. Zum Beispiel betrachtete er das Rad als eine Erweiterung des menschlichen Fußes und den Computer als eine Erweiterung des menschlichen Gehirns.

Dem stimme ich zu! Nehmen wir mal die KI: Meinen Verstand hat sie "supercharged". Vieles, was ich im Hintergrund im Kopf hatte, aber wo ich eher in Gedankenschleifen festhing, konnte ich mit der KI vollenden und sogar mit anderen Bereichen und Wissen synthetisieren. Die KI ermöglicht es mir, interaktiv mit dem "Weltwissen" zu agieren und dabei jeden Tag ein bischen klüger zu werden und mehr zu lernen. Was auch daran liegt, dass ich die KI auch ständig "provoziere" (also im intellektuellen Sinne), so dass sie sogar ihr eigenes Wissen neu verdrahten muss.

Wichtig natürlich auch hier:
Raus aus der Opferrolle! Um mal Kant zu zitieren: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Das gilt für die Pommesbude genauso wie für die KI.

PS:
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:49:18
Was machen die Medien mit mir?" Dies gilt auch und gerade für das Smartphone.
Ihr solltet euch lieber Fragen: Was macht die Gesellschaft mit mir? Dass die Opferrolle auch hier in der Diskussion so allgegenwärtig ist, ist kein Zufall.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Meillo » 15.10.2024 11:57:13

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:37:42
Wer ein Problem mit seinem Smartphone hat oder wer an jeder Imbissbude an der Stadt anhalten muss, um etwas zu essen (das gibt es ja auch zuhauf), der sollte aufhören die Pommesbuden zu beschuldigen - sondern einmal anfangen, sich mit seiner eigenen Psyche zu beschäftigen.
Ich wollte nicht ausdruecken, dass ich irgendwas beschuldige; ich stelle einen Einfluss fest, dem man nur mit Energie sich widersetzen kann. Ich finde es interessant, dass du das als krankhaft darzustellen scheinst. In diesem Sinne kann man dann so gut wie alle als psychisch krank ansehen, was dann aber keine Krankheit waere, sondern das Normal. Vielleicht ist der Mensch an sich ja einfach krank ... es ist wohl auch krank, evolutionaere Verhaltensweisen zu haben, wie selektive Aufmerksamkeit und Stress.

Spielst du hier wieder Advocatus Diaboli, wenn du die Effekte der Smartphonenutzung und von Werbung als psychische Krankheiten an jedes Individuum zurueckspielst? Das hoert sich an wie wenn es keine gesellschaftlichen Phaenomene gaebe, sondern bei allem immer das Individuum schuld waere und es bloss nicht jammern solle, weil es muss sich ja nur therapieren.

Ich kenne solche Weltsichten, ich finde es aber immer wieder krass, in welcher Form du diese vortraegst. Sollen wir uns daran abarbeiten?
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 12:07:43

Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 11:57:13
Ich wollte nicht ausdruecken, dass ich irgendwas beschuldige; ich stelle einen Einfluss fest, dem man nur mit Energie sich widersetzen kann.
Einflüsse sind völlig normal und Teil des Lebens. Und Menschen, die heute am Smartphone herumklimpern, sind womöglich früher in Kneipen (vor sich selbst) geflohen. Sogar hier kann ich Degenhardt zitieren (https://www.youtube.com/watch?v=U8IVZPt2urs):
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend
Ihre Männer unterfassend
Die sie heimlich heimwärts ziehn
Dass sie nicht in Kneipen fliehn
Die "Energie" die man dafür aufwenden muss, ist aber übrigens keineswegs "genormt". Wer reflektiert ist und "mit sich im Gleichgewicht" muss keinerlei Energie aufwenden, um von einer Kneipe wegzubleiben. Ich gehe einfach daran vorbei! Ein gerade trockener Alkoholiker der noch zahlreiche ungelöst Probleme hat - erheblich mehr. Gerade darum sage ich, wie wichtig ist, bei sich selbst zu schauen.
Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 11:57:13
Spielst du hier wieder Advocatus Diaboli
Nein.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Meillo » 15.10.2024 12:12:10

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 12:07:43
Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 11:57:13
Ich wollte nicht ausdruecken, dass ich irgendwas beschuldige; ich stelle einen Einfluss fest, dem man nur mit Energie sich widersetzen kann.
Einflüsse sind völlig normal und Teil des Lebens. Und Menschen, die heute am Smartphone herumklimpern, sind womöglich früher in Kneipen (vor sich selbst) geflohen.
Vielleicht sind sie auch gar nicht psychisch krank und fliehen auch vor nichts, sondern lassen sich einfach unterhalten, um zu entspannen, so wie Millionen Deutsche jeden Tag vor dem Fernsehgeraet. Oder haben die deiner Meinung auch ein psychisches Problem? Du scheinst mit deinem psychischen Hammer alles als Nagel anzusehen. ;-)
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 12:15:38

Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 12:12:10
Vielleicht sind sie auch gar nicht psychisch krank und fliehen auch vor nichts, sondern lassen sich einfach unterhalten, um zu entspannen, so wie Millionen Deutsche jeden Tag vor dem Fernsehgeraet. Oder haben die deiner Meinung auch ein psychisches Problem? Du scheinst mit deinem psychischen Hammer alles als Nagel anzusehen. ;-)
Da irrst du. Das ist völlig okay. Ich sehe auch keinerlei Problem darin, wenn jemand sagt: "Ich verbringe den ganzen Tag am Smartphone und das ist auch gut so und ich stehe dazu."

Ein Problem sehe ich aber, wenn externe Faktoren als Sündenböcke benutzt werden, um abzulenken von eigener oder gesellschaftlicher Verantwortung und Problemen.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 12:43:59

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:07:54
[...] wie junge Menschen in absolut schädlich absurder Weise indoktriniert werden - durch Glorifizierung der Opferrolle und das Ablehnen jeglicher Resilenz. Man fördert geradezu fragile, unsichere Menschen. Besonders bei Frauen. Seitdem die Identitätspolitik richtig damit loslegte, Frauen zu allgemeinen "Opfern" und "allseits benachteiligt" zu erklären sind die Raten psychologisch problematischen Verhaltens bei jungen Frauen geradezu explodiert. Gleichzeitig trichtert man ihnen ein, dass "Gefühle immer recht haben" - weswegen sie gar nicht lernen, reflektiert zu handeln und Dinge zu überdenken. Das Gegenteil wird bezweckt. Es gibt noch vieles mehr (das ist nur ein Teil), das würde aber hier zu weit führen.
user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 10:59:56
Raus aus der Opferrolle! Um mal Kant zu zitieren: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Das gilt für die Pommesbude genauso wie für die KI.
An Deiner wiederholt vorgebrachten Beobachtung, dass das Einnehmen von Opferrollen in öffentlichen Debatten zunimmt, mag ja was dran sein.

Es wäre aber die falsche Konsequenz, sich deshalb umgekehrt einer neoliberalen Sicht anzudienen, die besagt, dass jeder von uns ein Selfmademan und Unternehmer seiner selbst zu sein hat. Jeder muss dann seines eigenen Glückes Schmid sein und hat die grandiosen Erzeugnisse des Fortschritts (Pommesbuden wie KI) bzw. deren infrastrukturelle Integration in unsere Gesellschaft fraglos hinzunehmen. Wer damit überfordert ist, ist nach diesem Narrativ entweder krank oder selber schuld. Das führt, konsequent zu Ende gedacht, erstens in eine Zurückdrängung der Politik zugunsten einer unregulierten Ökonomie und zweitens in eine "kalte" Gesellschaft, die aus monadischen Individuen besteht und keine Solidarität und Empathie mehr kennt.

Übrigens sind es gerade auch populistische Politiker und Parteien, wie Trump, Putin oder die AfD, die sich gerne als Opfer stilisieren – dies nur um das Spektrum Deiner Beispiele ein wenig zu erweitern. :wink:

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 12:59:27

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 12:43:59
Es wäre aber die falsche Konsequenz, sich deshalb umgekehrt einer neoliberalen Sicht anzudienen, die besagt, dass jeder von uns ein Selfmademan und Unternehmer seiner selbst zu sein hat.

Jeder muss dann seines eigenen Glückes Schmid sein und hat die grandiosen Erzeugnisse des Fortschritts (Pommesbuden wie KI) bzw. deren infrastrukturelle Integration in unsere Gesellschaft fraglos hinzunehmen. Wer damit überfordert ist, ist nach diesem Narrativ entweder krank oder selber schuld.
Nur gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen allgemeiner Gelassenheit und der Verantwortung für die eigene Psyche und das Leben - und darum ein "Selfmade Man" zu werden. Ersteres sind universale menschliche Qualitäten zu allen Zeiten. Neoliberalismus abzulehnen bedeutet nämlich nicht zu sagen "Ach, da steht ne Pulle Schnaps, die trink ich jetzt! Ich bin kein Neoliberaler, der glaubt, er hätte Verantwortung über sein Handeln! Also immer rein damit!"

Ich möchte an der Stelle auch mal Robert Pfaller zitieren, ein Kritiker sowohl des Neoliberalismus als auch des Postmodernismus:
Und wenn uns die Opfer der postmodernen Ideologie wirklich einmal begegnen, die unter der Bedingung der Gegenübertragung sich selbst als grenzenlos Schwache imaginieren und als völlige Idioten agieren, dann müssen wir uns an die geglückte Intervention der Signora Fo erinnern. Wenn wir zum Beispiel Studierende antreffen sollten, die an der Universität alles vorgeschrieben bekommen möchten, weil die Aufforderung, eigene Interessen zu entwickeln und ihnen nachzugehen, sie aufgrund ihrer Bildungsferne verwirre, dann müssen wir ihnen mit liebevoller Strenge zurufen: »Bohr nicht in der Nase! Schau dir an, was die Universität dir bieten kann!« – Wir müssen also denjenigen, die sich selbst auf jene neue Schlichtheit des Gemüts beschränken möchten, die man ihnen eingeredet hat und in der sie sich darum liebenswert vorkommen, zeigen, dass wir ihnen mehr zutrauen als sie sich selbst und dass sie für uns in größerer Komplexität noch weitaus liebenswerter sind als in der trügerischen Einfachheit ihrer künstlichen Idiotie.

Pfaller, Robert. Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie (Fischer Taschenbibliothek) (German Edition) (pp. 33-34). FISCHER E-Books. Kindle Edition.
Es steht natürlich weiter jedem frei, zu sagen "Ich bin mit Pommesbuden überfordert". Ob jemand, der allerdings an Pommesbuden scheitert, mit den Herausforderungen einer nicht-zivilisierten Welt besser klar käme, darf durchaus dahingestellt sein.
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 12:43:59
Übrigens sind es gerade auch populistische Politiker und Parteien, wie Trump, Putin oder die AfD, die sich gerne als Opfer stilisieren – dies nur um das Spektrum Deiner Beispiele ein wenig zu erweitern. :wink:
Ja, da hast du völlig recht. Macht es aber keineswegs besser, sondern ist auch Symptom der Zeit.
Zuletzt geändert von user8111 am 15.10.2024 13:38:24, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von rhHeini » 15.10.2024 13:26:11

Noch ein Kommentar dazu warum ich mich gegen die Zwangsdigitalisierung wehre:

Angeblich macht die Digitalisierung ja vieles leichter. Ich sehe es aber so das es viel zu oft eben komplizierter und teurer für mich als Betroffener wird. Und es ist vielfach ein Flucht aus der Verantwortung der Entscheider und der Macher.
Ich habe den Eindruck dass die SW, die sogenannten Apps, total aufgeblasene Monster sind, und das vielfach wichtige Details fehlen. Da sin Toolkits eingebunden die irgendwelche intransparenten Untergrundaktivitäten veranstalten.
Die Bedienung ist vielfach nicht wirklich einfacher, Dinge sind plötzlich ganz anders angeordnet oder ganz tiel unten versteckt wo man es nicht vermutet. Dann sind da fehlerhafte Funktionen oder Aussetzer drin, wie z.B. verschwundene Tickets. Keine SW ist fehlerfrei.
Braucht man dann Support ist es extrem schwierig überhaupt jemanden ans Telefon zu bekommen, Mails werden nicht beantwortet. Und der First Level hat oft nicht die geringste Ahnung worum es geht, ist dann aber extrem hartleibig wenn es darum geht das Problem zu eskalieren.
Im Moment versucht meine Hauptbank die Smartphone-App mit der Webapplikation zu vereinen, das Projekt läuft bereits 2 Jahre oder so. Ich muss jetzt im Web mit dem neuen Banking arbeiten, und ich halte es für eine Frechheit das in diesem Zustand den Kunden aufzuzwingen. Warum:
- Dinge die im alten Banking integriert waren sind nicht vorhanden, z.B. das Erstellen und Bearbeiten von Daueraufträgen.
- Versprochene Funktionen sind nicht implementiert, wie Depothandling, Daueraufträge gegen das Tagesgeldkonto, ...
- Die Kontoübersicht wurde smartphonegerecht beschnitten, man sieht keine Details der Abbuchungen mehr.
- Und auch so Kleinigkeiten wie die im alten Banking per Default aktivierte Eingabemaske für die TAN muss man jetzt manuell aktivieren.
usw.
Und Personal an der Hotline fehlt.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 13:43:10

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 12:59:27
Es steht natürlich weiter jedem frei, zu sagen "Ich bin mit Pommesbuden überfordert". Ob jemand, der allerdings an Pommesbuden scheitert, mit den Herausforderungen einer nicht-zivilisierten Welt besser klar käme, darf durchaus dahingestellt sein.
Wenn es aber in der Stadt und vor jeder Schule Pommesbuden en masse gibt, aber keine Vielfalt und gesündere Alternativen, wäre das ein Problem, dessen sich Kommunalpolitik und Stadtentwicklung anzunehmen hätte. Das Smartphone ist gleichsam die Pommesbude unseres digitalen Alltags. Die Alternative lautet doch nicht Zivilisation versus "Zurück in die Steinzeit". Du verweigerst Dich der Frage, wie wir als Gesellschaft mit Technik und anderen "zivilisatorischen" Errungenschaften umgehen und wie wir diese – als Gesellschaft – in unsere Kultur integrieren.

Das Ideal eines selbstbestimmten, mündigen Bürgers einerseits und vernünftige politische Maßnahmen bzw. Entscheidungen andererseits schließen sich nicht aus – egal, ob es um Autobahnen, Kernkraftwerke, KI, Smartphones oder meinetwegen Pommesbuden geht. Im Gegenteil, ein mündiger Bürger ist idealerweise immer auch ein homo politicus, der gemeinsam mit anderen Bürgern versucht, die Welt, in der wir leben wollen, zu gestalten. Zivilisation ist in ihren Ausprägungen eben nicht als naturgegeben hinzunehmen.
Zuletzt geändert von Huo am 15.10.2024 13:47:01, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 13:46:56

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 13:43:10
Wenn es aber in der Stadt und vor jeder Schule Pommesbuden en masse gibt, aber keine Vielfalt und gesündere Alternativen, wäre das ein Problem, dessen sich Kommunalpolitik und Stadtentwicklung anzunehmen hätte.
Es ist nicht die Aufgabe der Stadt, Lebensmittel-Läden zu betreiben. Es gibt aber heute Schul-Kantinen, die gesunde ausgewogene Nahrung anbieten. Sofern das nicht der Fall ist und man dort nur "billiges fettiges" anbietet in den Kantinen (neoliberale Sparmaßnahmen) dann besteht hier durchaus Eingriffs-Bedarf und ein Mangel, das ist korrekt.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von ralli » 15.10.2024 14:32:36

Sich als Opfer der Umstände zu präsentieren, ist nichts anderes als die Flucht aus der eigenen Verantwortlichkeit.

Als trockener Alkoholiker weiß ich, das jeder von allem süchtig werden kann. Es gibt nämlich auch die nichtstofflichen Süchte.

Im übrigen kann ich an jeder Kneipe vorbei gehen, ohne den Drang zu verspüren, dort einzukehren. Auch wenn andere bei einer Feier trinken, stört mich das nicht, es ist mir egal. Wichtig für mich ist, das ich nicht trinke. Und als trockener Alkoholiker sehe ich mich keinesfalls als Opfer, sondern als Gewinner.

Erziehung findet heutzutage kaum noch statt. Verwöhnung und Verzärtelung aber ist das Gegenteil von Liebe.

Es ist an der Zeit, das ein jeder wieder die Verantwortung für sein Tun aber auch für sein Unterlassen übernimmt.

Wo finde ich das in welcher Erziehung?

Wenn Eltern Ihren 8 jährigen Kindern bereits erlauben, ein Smartphone auf dem Schulweg zu benutzen, wenn Schulkinder im Schulbus nicht mehr auf normalen Wege miteinander kommunizieren, sondern nur noch daddeln, dann ist der Weg zu einer Verblödung nicht mehr weit. Das kann KI auch nicht kompensieren....

Gruß ralli

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 15:26:16

ralli hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 14:32:36
Sich als Opfer der Umstände zu präsentieren, ist nichts anderes als die Flucht aus der eigenen Verantwortlichkeit.

Als trockener Alkoholiker weiß ich, das jeder von allem süchtig werden kann. Es gibt nämlich auch die nichtstofflichen Süchte.
[...]
Es ist an der Zeit, das ein jeder wieder die Verantwortung für sein Tun aber auch für sein Unterlassen übernimmt.
Selbstverantwortung schön und gut, aber wenn man – wie es meines Wissens auch die Anonymen Alkoholiker tun – Sucht als Krankheit begreift, dann frage ich mich, ob nicht durch eben jene Krankheit die persönliche Autonomie oft so eingeschränkt ist, dass man ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Sucht herausfindet. Egal, ob es um Alkohol- oder Smartphoneabhängigkeit geht. So gesehen finde ich es fragwürdig, von einer moralisch hohen Warte aus Suchtkranken eine Art "Schuld" für ihr Leiden zuzuschieben. Davon abgesehen hat die Gesellschaft eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren kranken Mitgliedern oder auch gegenüber potentiell Gefährdeten.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 15:32:40

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:26:16
dass man ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Sucht herausfindet. Egal, ob es um Alkohol- oder Smartphoneabhängigkeit geht. So gesehen finde ich es fragwürdig, von einer moralisch hohen Warte aus Suchtkranken eine Art "Schuld" für ihr Leiden zuzuschieben. Davon abgesehen hat die Gesellschaft eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren kranken Mitgliedern oder auch gegenüber potentiell Gefährdeten.
Ich denke, hier muss man ein paar Dinge unterscheiden.

1. Eigenverantwortung bedeutet nicht, dass man mit allem alleine fertig werden muss. Sie bedeutet in dem Fall nur, dass man nicht sagt "Die Lösung für meine Probleme ist ein allgemeines Alkoholverbot. Bis das da ist, kann ich nichts tun, um etwas zu ändern." - sondern dass man sich eben Hilfe sucht.

2. Bei ralli war es wohl (wenn ich es richtig verstanden habe) so, dass er u.a. durch seinen früheren Perfektionismus und den Versuch, an unveränderbaren Dingen unbedingt etwas ändern zu wollen (was starke Frustration erzeugt) in den Alkoholismus hereingeraten ist und nun vieles sehr viel gelassener und "weiser" sieht. Es spricht nichts dagegen, dass jeder Mensch "präventiv" sich mit so etwas befasst und überzogene Perfektion z.b. als "Warnzeichen" ansieht. Dann ist das Risiko anschließend in Alkoholismus, Fressucht etc. abzugleiten sehr viel geringer.

Schuld ist ein schweres Wort. Aber wer z.B. glaubt, er kann täglich 12h arbeiten ohne Ausgleich (wie das viele Manger berichten) - dem kann ich fast garantieren dass das "nicht gut gehen wird" und er früher oder später zu Substanzen greifen wird.
Zuletzt geändert von user8111 am 15.10.2024 15:43:24, insgesamt 9-mal geändert.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Meillo » 15.10.2024 15:33:09

ralli hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 14:32:36
Sich als Opfer der Umstände zu präsentieren, ist nichts anderes als die Flucht aus der eigenen Verantwortlichkeit.
Ich kann mir Szenarien vorstellen, in denen ich dir zustimme, und andere, in denen ich dir widersprechen wuerde. Manchmal wollen Menschen gerne Opfer sein, um das Problem von sich zu schieben, manchmal sind sie aber nunmal einfach Opfer und *sollten* sich dann auch als soche darstellen, um eine angemessene Wahrnehmung zu ermoeglichen. Das beides sollte nicht in einen Topf gekippt werden. Ich finde es aber auch schwer, dazwischen klar unterscheiden zu koennen.

(Edit: Danke auch Huo fuer deinen Beitrag zu dem Thema.)


@rhHeini: Deine Ausfuehrungen kann ich gut nachvollziehen. Mir geht es oft aehnlich. Ich haette viel weniger Widerstaende gegen digitale Wege, wenn diese ordentlich gemacht waeren, nur leider sind sie oft von der Technik, dem Datenschutz, der Sicherheit, der Kompatibilitaet, der Sinnhaftigkeit der Funktionen, dem Userinterface, usw. einfach haarstraeubend. Dass sie zugleich vor allem ``schoen'' aussehen sollen, anstatt vor allem funktional zu sein, und dass sie hochtrabend praesentiert werden, anstatt die Realitaet ihrer Maengel anzuerkennen, verstaerkt meine Widerstaende. Schlimm ist, wenn man fuer derartige Katastrophen gut funktionierende Systeme zwangsabschaltet. Wie soll ich da etwas anderes als unzufrieden sein.

Ob die digitalen Wege billiger sind als die analogen ist eher eine Frage davon, welchen Geldtopf man anschaut. Oft wird nur verschoben und verlagert, damit die richtigen Bilanzen gut aussehen.

Waere in den meisten Faellen Digitalisierung nicht gleichbedeutend mit substanzlosem Marketinggelaber, sondern waeren das solide, gut gemachte Umsetzungen, die durch ihre Vorteile von selbst ueberzeugen, anstatt mit Marketingkampagnen beworben zu werden, dann faende ich das richtig gut.

So gesehen ist das Smartphone besser als weite Teile ``der Digitalisierung'', denn das Smartphone wird deshalb von vielen genutzt, weil es einfach tatsaechliche Vorteile hat, die fuer die Menschen den nicht-digitalen Alternativen ueberlegen sind. Man muss es nicht bewerben und keine Alternativen abschalten, damit es genutzt wird.
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Meillo » 15.10.2024 15:50:23

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:32:40
Eigenverantwortung bedeutet nicht, dass man mit allem alleine fertig werden muss. Sie bedeutet in dem Fall nur, dass man nicht sagt "Die Lösung für meine Probleme ist ein allgemeines Alkoholverbot. Bis das da ist, kann ich nichts tun, um etwas zu ändern." - sondern dass man sich eben Hilfe sucht.
Denkst du, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben und die gleichen Dinge erreichen koennen?

Mir fehlt ein bisschen das Verstaendnis von Benachteiligungen mancher Personengruppen in der Gesellschaft. Du sagst, dass alle Personen, die ein Problem mit dem haben, wie die Welt momentan gerade ist, halt danach schauen muessen, dass sie damit umgehen und sie sollen nicht darueber jammern oder sich als Opfer sehen. Aber wenn nun ein Grossteil der Menschen bequem lebt indem sie die Gesellschaft so gestalten, dass ein paar Minderheiten das Leben erschwert wird, dann sind diese doch Opfer, oder? Ich finde es unfair, denen dann zu sagen, sie sollen nicht rumheulen, sondern Zusatzenergie investieren, damit sie mit einer Welt kompatibel werden, die ihnen nicht entspricht und ihnen eben diese Zusatzbelastung aufbuerdet.

Es sich bequem zu machen und nichts aendern zu wollen, finde ich auch falsch. Zugleich scheint mir der weit groessere Einfluss aber von den aeusseren Bedingungen zu kommen, die es manchen Menschen aufgrund vielfaeltiger Umstaende sehr viel schwerer machen und noch viel mehr Energie von ihnen fordern, um dieser ``Eigenverantwortung'' nachzukommen, der man als privilegierte Person einfach so nebenher nachgehen kann.

(Gute Einstiegpunkte in ein Verstaendnis diesbezueglich koennten die Begriffe Loeffeltheorie und Crip Time sein ... und ueberhaupt die Beschaeftigung mit Privilegiertsein.)
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 15:57:50

Meillo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:50:23
user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:32:40
Eigenverantwortung bedeutet nicht, dass man mit allem alleine fertig werden muss. Sie bedeutet in dem Fall nur, dass man nicht sagt "Die Lösung für meine Probleme ist ein allgemeines Alkoholverbot. Bis das da ist, kann ich nichts tun, um etwas zu ändern." - sondern dass man sich eben Hilfe sucht.
Denkst du, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben und die gleichen Dinge erreichen koennen? [...]
Mir fehlt ein bisschen das Verstaendnis von Benachteiligungen mancher Personengruppen in der Gesellschaft.
Nein, denn ich bin kein Neoliberaler. Es gibt aber einen erheblichen Unterschied zwischen der Behauptung "Jeder kann ein 1er-Abitur haben wenn er will" oder "Jeder kann in kurzer Zeit Millionär sein, wenn er nur will" (was einfach nicht stimmt) und der Behauptung, dass jeder zu grundlegenden Dingen in der Lage ist und wir die auch von ihm erwarten können und sollten.

Man muss sich in Deutschland nicht totsaufen - auch als "Benachteiligter" nicht. Es ist fast schon eine Beleidigung für diese Gruppen, dass du Benachteiligte quasi auf eine Stufe stellst, wo sie grundlgende menschliche Dinge nicht hinbekommen würden.

Auch hier passt nochmal das Pfaller-Zitat:
Und wenn uns die Opfer der postmodernen Ideologie wirklich einmal begegnen, die unter der Bedingung der Gegenübertragung sich selbst als grenzenlos Schwache imaginieren und als völlige Idioten agieren, dann müssen wir uns an die geglückte Intervention der Signora Fo erinnern. Wenn wir zum Beispiel Studierende antreffen sollten, die an der Universität alles vorgeschrieben bekommen möchten, weil die Aufforderung, eigene Interessen zu entwickeln und ihnen nachzugehen, sie aufgrund ihrer Bildungsferne verwirre, dann müssen wir ihnen mit liebevoller Strenge zurufen: »Bohr nicht in der Nase! Schau dir an, was die Universität dir bieten kann!« – Wir müssen also denjenigen, die sich selbst auf jene neue Schlichtheit des Gemüts beschränken möchten, die man ihnen eingeredet hat und in der sie sich darum liebenswert vorkommen, zeigen, dass wir ihnen mehr zutrauen als sie sich selbst und dass sie für uns in größerer Komplexität noch weitaus liebenswerter sind als in der trügerischen Einfachheit ihrer künstlichen Idiotie.

Pfaller, Robert. Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie (Fischer Taschenbibliothek) (German Edition) (pp. 33-34). FISCHER E-Books. Kindle Edition.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 16:04:30

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:32:40
1. Eigenverantwortung bedeutet nicht, dass man mit allem alleine fertig werden muss. Sie bedeutet in dem Fall nur, dass man nicht sagt "Die Lösung für meine Probleme ist ein allgemeines Alkoholverbot. Bis das da ist, kann ich nichts tun, um etwas zu ändern." - sondern dass man sich eben Hilfe sucht.
Hilfe wird allerdings nur in einer Welt zu finden sein, die neben Eigenverantwortung auch Mitmenschlichkeit als Verantwortung für andere kennt.

Im Übrigen habe ich nie gesagt, dass ich das Smartphone (oder Alkohol) verbieten will, da hast Du mich vielleicht missverstanden. Ich meine aber, dass die Gesellschaft ihren Umgang mit Smartphone wie Alkohol thematisieren muss, statt dies radikal dem einzelnen Individuum aufzubürden. Erziehung zu Autonomie und Eigenverantwortung muss zu gesellschaftlichen Regulierungen keinesfalls im Widerspruch stehen.
Zuletzt geändert von Huo am 15.10.2024 16:09:15, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von user8111 » 15.10.2024 16:09:14

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 16:04:30
Im Übrigen habe ich nie gesagt, dass ich das Smartphone (oder Alkohol) verbieten will, da hast Du mich vielleicht missverstanden. Ich meine aber, dass die Gesellschaft ihren Umgang mit Smartphone wie Alkohol thematisieren muss, statt dies radikal dem einzelnen Individuum aufzubürden. Erziehung zu Autonomie und Eigenverantwortung muss zu gesellschaftlichen Regulierungen keinesfalls im Widerspruch stehen.
Einverstanden - da spricht nichts gegen. Wichtiger wäre es aber noch, die psychische Gesundheit zu thematisieren. Denn die Sucht ist immer nur Symptom.

Und auch wie man es thematisiert ist übrigens sehr wichtig: Denn es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass Dämonisierung den Kontrollverlust eherblich beschleunigt und oft auch erst verursacht: Wer z.B. glaubt "Alkohol/ein Smartphone ist ein Teufelszeug, das schnell abhängig macht und über das man wenig Kontrolle hat" - bei dem passiert sehr oft genau das (selbsterfüllende Prophezeiung). Wer nämlich glaubt, er hat keine Macht, der lässt sich wunderbar "hereingleiten" in die Falle. Denn es "nützt ja eh alles nichts".

Huo
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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von Huo » 15.10.2024 16:23:48

user8111 hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 16:09:14
Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 16:04:30
Im Übrigen habe ich nie gesagt, dass ich das Smartphone (oder Alkohol) verbieten will, da hast Du mich vielleicht missverstanden. Ich meine aber, dass die Gesellschaft ihren Umgang mit Smartphone wie Alkohol thematisieren muss, statt dies radikal dem einzelnen Individuum aufzubürden. Erziehung zu Autonomie und Eigenverantwortung muss zu gesellschaftlichen Regulierungen keinesfalls im Widerspruch stehen.
Einverstanden - da spricht nichts gegen. Wichtiger wäre es aber noch, die psychische Gesundheit zu thematisieren. Denn die Sucht ist immer nur Symptom.
Okay, so können wir uns vielleicht zuletzt "in der Mitte" treffen, wobei unterschiedliche Schwerpunkte bestehen bleiben: Du legst die Betonung auf starke, eigenverantwortlich handelnde Individuen, ich auf Gemeinsinn und die Notwendigkeit von Solidarität auch mit den Schwachen. Wahrscheinlich ist beides gleichermaßen erstrebenswert. :wink:
Zuletzt geändert von Huo am 15.10.2024 16:29:35, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Digitalzwang und analoge Ausgrenzung

Beitrag von ralli » 15.10.2024 16:29:05

Huo hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 15:26:16
ralli hat geschrieben: ↑ zum Beitrag ↑
15.10.2024 14:32:36
Sich als Opfer der Umstände zu präsentieren, ist nichts anderes als die Flucht aus der eigenen Verantwortlichkeit.

Als trockener Alkoholiker weiß ich, das jeder von allem süchtig werden kann. Es gibt nämlich auch die nichtstofflichen Süchte.
[...]
Es ist an der Zeit, das ein jeder wieder die Verantwortung für sein Tun aber auch für sein Unterlassen übernimmt.
Selbstverantwortung schön und gut, aber wenn man – wie es meines Wissens auch die Anonymen Alkoholiker tun – Sucht als Krankheit begreift, dann frage ich mich, ob nicht durch eben jene Krankheit die persönliche Autonomie oft so eingeschränkt ist, dass man ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Sucht herausfindet. Egal, ob es um Alkohol- oder Smartphoneabhängigkeit geht. So gesehen finde ich es fragwürdig, von einer moralisch hohen Warte aus Suchtkranken eine Art "Schuld" für ihr Leiden zuzuschieben. Davon abgesehen hat die Gesellschaft eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren kranken Mitgliedern oder auch gegenüber potentiell Gefährdeten.
Alkoholismus ist seit 1968 als Krankheit anerkannt. Allerdings war damals einer der Hauptgründe, die Familienangehörigen finanziell abzusichern und zu schützen.

Die Alkolkrankheit entwickelt sich schleichend bis zur lebensbedrohenden Abhängigkeit aus der es nur einen einzigen Weg zurück in die Normalität der seelischen und geistigen Gesundung gibt, die lebenslange Abstinenz. Es gibt eine Klassifizierung nach Jellinek:

Alpha-Trinker

Alphatrinker (Problemtrinker) trinken, um seelische Belastung leichter zu ertragen. Es besteht keine körperliche Sucht, jedoch eine seelische Abhängigkeit. Das Trinkverhalten ist undiszipliniert. Es kommt jedoch nicht zu einem Kontrollverlust. Gesundheitsschäden und soziale Auffälligkeiten sind nicht selten. Übergang in die Alkoholabhängigkeit vom Gamma-Typ (s. u.) ist häufig.

Zu dieser Gruppe des Gewohnheitstrinkers gehörte ich. Ich trank nie täglich, aber stets an den Wochenenden.

Beta-Trinker

Beta-Trinker (Gelegenheitstrinker) trinken unter der Übernahme gesellschaftlicher Konsummuster (z.B. auf Feiern jeglicher Art). Obwohl Beta-Trinker weder psychisch noch physisch süchtig sind, sind sie leicht zum Konsum zu verleiten und schädigen durch unverantwortliches Handeln ihre Gesundheit. Beta-Trinker sind suchtgefährdet (nicht selten Übergang in einen Delta-Alkoholismus).

Gamma-Trinker

Gamma-Trinker (Suchttrinker) sind psychisch stärker süchtig als physisch. Beim Trinken kommt es zum Kontrollverlust. Trinkexzesse und unauffällige Phasen wechseln sich ab. Durch den ersten Schluck Alkohol wird immer häufiger ein scheinbar unstillbares Verlangen nach immer mehr Alkohol ausgelöst.

Delta-Trinker

Delta-Trinker (Spiegeltrinker) sind körperlich stärker abhängig als psychisch. Delta-Trinker benötigen eine bestimmte Mindestmenge Alkohol, um sich gut zu fühlen. Ohne Alkohol leiden Delta-Trinker unter häufig unerwartet heftigen Entzugserscheinungen wie Tremor, Diarrhö und Schlaflosigkeit und fallen sozial eher auf.

Epsilon-Trinker

Epsilon-Trinker (Quartalssäufer) sind psychisch abhängig. Sie können über Monate abstinent sein, gefolgt von Episoden exzessiven Alkoholkonsums. In diesen Phasen ist ein Kontrollverlust vorhanden. Trinkexzesse können tagelang fortgeführt werden und zu vorübergehendem Gedächtnisschwund (Filmriss) und illusionärer Verkennung führen. Nach einer solchen Phase folgt in der Regel wieder eine Phase der Abstinenz.

Ich leide nicht unter Schuldgefühlen, denn ich habe mir diese Krankheit nicht ausgesucht. Und ja, die Gesellschaft (auch die Arbeitgeber) kommen ihrer Fürsorgepflicht in aller Regel nach.

Bevor ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wegen Alkoholmißbrauch fristlos kündigen kann und darf, muß ihm das Angebot unterbreitet werden, einen klinischen Entzug zu machen.

Wer Hilfe sucht, wird sie auch finden.

Nach 30 Jahren der absoluten Abstinenz könnte ich es ja versuchen wieder zu trinken, aber dieses Risiko ist wie russisches Roulette, und dieses Experiment könnte am Ende tödlich ausgehen.

So ich möchte diesen Thread nicht umwidmen, wollte aber ein wenig Licht in diese Thematik bringen, da ich ja selber betroffen bin.

Gruß ralli

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